Heute jährt sich ein Tag, der nie wiederkommen darf: Das Pogrom auf die jüdischen Mitbürger, damals als „Reichskristallnacht“ (so genannt wegen der Scherben) bezeichnet. „Zerstört die Synagogen, zerstört ihre Geschäfte, verhaftet die Juden!“ – das war die Devise, unter der überall im Dritten Reich „Rache“ geübt wurde dafür, das ein 17jähriger polnischer Jude in Paris ein Mitglied der dortigen deutschen Botschaft, Ernst vom Rath, erschossen hatte.
Die Heidelberger Synagoge in der Großen Mantelgasse wurde in der Nacht des 9.11.1938 von etwa 30 SA-Männern und deren Helfern mit Holzwolle und benzingefüllten Kanistern in Brand gesetzt.
Was hat das mit Psychologie oder gar dem Psychologischen Institut zu tun? Nun, die Universität war der NSDAP sehr verbunden (die Heidelberger Ortsgruppe der NSDAP war die größte im Gau Baden) – schon die kurz nach der Machtergreifung 1933 erfolgte Entlassung von 62 der damals 296 Professoren wegen ihrer Abstammung war ein deutliches Zeichen der Verbundenheit, das vom Heidelberger Psychiater Carl Schneider etablierte Euthanasieprogramm ein weiteres. Dass Studierende und Professoren zusammen mit dem Reichsarbeitsdienst die Thing-Stätte auf dem Heiligenberg mitaufgebaut haben und sie dem Propagandaminister und Heidelberg-Alumnus Joseph Goebbels gewidmet haben, spricht ebenso ein deutliches Wort wie die Bücherverbrennung auf dem Universitätsplatz, wo bereits am 17.5.1933 Studenten der Ruperto Carola unter großem Beifall der Heidelberger Bürger die Bücher von Sigmund Freud, Bert Brecht, Kurt Tucholsky, Heinrich Mann, Karl Marx, Alfred Döblin und vielen anderen deutschen Autoren verbrannten.
Der Bezug zum PI? In einer jüngst bei uns abgeschlossenen Dissertation (hier der Link zur PDF-Fassung) hat Susanne Guski-Leinwand die mögliche Mitschuld unserer Disziplin an der damaligen politisch-geistigen Entwicklung beleuchtet – der Antisemitismus kam ja nicht aus dem Nichts, sondern hatte eine lange Vorlaufzeit. Der Begriff der Ganzheit und die Person Felix Krueger, Nachfolger Wilhelm Wundts in Leipzig, spielen dabei eine unrühmliche Rolle. Guski-Leinwand spricht davon, dass Teile der Psychologie in Deutschland bereits im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als eine „Psychologie für den Nationalsozialismus“ charakterisiert werden können. Wissenschaft und Gesellschaft sind eben nicht einfach (oder besser: einfach nicht) voneinander zu trennen. Wir tragen eine Verantwortung als Psychologen!
Die Achtung von Menschen- und Minderheitenrechten sowie die Garantie der Meinungs-, Glaubens- und Religionsfreiheit sind von höchster Bedeutung. Zu diesen Freiheiten trägt vor allem eine breite Bildung bei, denn sie befähigt uns zu kritischem und mündigem Urteil. Nicht gute Ausbildung schützt uns vor einer Wiederholung solcher Greueltaten, sondern gute Bildung, die neben Wissen auch die erwähnten Grundwerte vermittelt!
Die Beschäftigung mit anderen Völkern, Kulturen und Religionen sowie die Einlassung auf die Geschichte zählen auch dazu. Psychologiegeschichte, Religionspsychologie, politische Psychologie und Kulturpsychologie sollten kein Schattendasein führen und ums Überleben kämpfen müssen, sondern wir sollten stolz darauf sein (und auch Forschungsgelder dort investieren!). Aber natürlich gibt es viele weitere Themen in diesem Zusammenhang, wie z.B. die Frage nach der Förderung von Zivilcourage, dem Zustandekommen von Emotionen wie Rache und Hass oder der Verwendung von Planungsstrategien ohne Reflektion der handlungsleitenden Ziele.
Hier die letzte Strophe aus „Kristallnaach“ von BAP (1982) – wo Menschen keine Menschen mehr sind, ist die Kristallnaach nicht weit (und der gute Charles Darwin muss auch herhalten):
Do, wo Darwin für alles herhällt,
ob mer Minsche verdriev oder quält,
do, wo hinger Macht Jeld ess,
wo stark sinn die Welt ess,
vun Kusche un Strammstonn entstellt,
wo mer Hymnen om Kamm sujar blööß,
en barbarischer Gier noh Profit
„Hosianna“ un „Kreuzigt ihn“ rööf,
wemmer irjendne Vorteil drin sieht,
ess täglich Kristallnaach.
Auf Hochdeutsch:
Da, wo Darwin für alles herhält,
ob man Menschen vertreibt oder quält, da,
wo hinter Macht Geld ist, wo stark sein die Welt ist,
von Kuschen und Strammstehen entstellt.
Wo man Hymnen auf dem Kamm sogar bläst
in barbarischer Gier nach Profit,
„Hosianna“ und „Kreuzigt ihn!“ ruft,
wenn man irgendeinen Vorteil darin sieht,
ist täglich Kristallnacht.
Einfach ein starker Text, ein tolles Lied!
Reichskristallnacht: Don’t forget it!
Nachtrag: Nicht schon wieder – Psychologen verbessern Foltertechniken: siehe https://joachimfunke.de/2009/07/27/psychologen-helfen-bei-sauberer-folter/