Gestern abend war die erste von drei Vorlesungen der Poetikdozentur 2008 von Peter Bieri (siehe auch meinen früheren Blog-Eintrag). „Was macht die Sprache mit uns?“ war das Thema. Bieri stellt heraus, dass das sprechende Tier die Welt wie auch sich selbst vor allem durch Erzählungen verstehen lernt. Gäbe es nur den Fluss sinnlicher Erfahrungen ohne die Möglichkeit, diese in Worte zu fassen, würde eine blinde Anschauung resultieren ohne jedes Verstehen und ohne Möglichkeit, auf gespeicherte Erinnerungen dieser Erfahrungen gezielt zurückzugreifen.
Literatur – so seine These – ist kunstvolle sprachliche Vergegenwärtigung von Erfahrungen. Gerade aus dem Verstehenwollen der Handlungen anderer Personen erfahren wir etwas über uns. Deswegen schärft gute Literatur unser Verständnis von der Welt und von uns selbst. Um etwa die Bewegung eines sich hebenden Arms zu verstehen, komme es auf die Kontexterkennung an: In einer Schulklasse, bei einer Auktion oder beim Physiotherapeuten bekommt ein und dasselbe Ausdrucksverhalten – der gehobene Arm – seinen je situationsspezifischen Sinn und seine jeweils andere Bedeutung. Die Untersuchung innerer Vorgänge sei daher solange problematisch, solange nicht auch situationale Kontexte einbezogen würden.
Sehr viele psychologische Bezüge also: Über das Wesen der Sprache als Hilfsmittels des Denkens; über Sinn und Verstehen; über Ziele, Intentionen und Handlungen; über genaue Beschreibung der Wirklichkeit; über die Schwierigkeiten, den richtigen Begriff zu finden; über Literatur als Ausdruck von Kultur.
Es war ein Genuss zuzuhören – seine langsame Redeweise, die einfachen Sätze, seine sokratische Art des Fragens erleichtern das Zuhören und ermöglichen das Nachvollziehen seiner Argumentation. Ich hätte auch noch länger zuhören können… Die Termine der nächsten Vorlesungen: 5.6. („Erzählungen verstehen“) und 12.6. („Erzählungen schreiben“), jeweils 19.00 HS 14 Neue Uni.
zum Nachlesen: RNZ Artikel 30.5.08 Poetik-Vorlesung Peter Bieri
FAZ.net Beitrag: http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E772C9D7A91604FB0A781E494B581CBCE~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Und noch etwas Tolles zum Schluss: Wer die drei Vorlesungen verpasst hat, kann sie als Video auf dem Mediaserver der Uni Heidelberg abrufen:
http://www.uni-heidelberg.de/media/germanistik/poetik2008.html
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